Wie in anderen Gesundheitsbereichen gibt es inzwischen auch eine Vielzahl digitaler Plattformen und Apps für beziehungsweise gegen psychische Probleme. Als „Psychotherapie“ dürfen solche Angebote in Österreich [und auch Deutschland] allerdings nicht bezeichnet werden. Was diese Apps und Plattformen leisten können und was nicht, erklärt Peter Stippl, Präsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie im Interview.
Im Bereich der Psychologie gibt es mittlerweile eine große Vielfalt an digitalen Services. Was darf online überhaupt angeboten werden?
Peter Stippl: Prinzipiell sind diese Dinge gesetzlich geregelt. Es gibt das Psychotherapiegesetz, eine Internetrichtlinie und eine Werberichtlinie. Wobei man dazu festhalten muss, dass Gesetze und Richtlinien immer nacheilend sind. Die Realität und jeder Fortschritt sind dem voraus. Und irgendwann wird ein so markanter Punkt am Markt erreicht, dass man nachbessern muss. In Österreich muss jedenfalls unterschieden werden zwischen Therapie und Beratung. Psychotherapie gibt es demnach nur in der persönlichen Interaktion zwischen Patienten und Behandelnden. Sonst darf es nicht Psychotherapie heißen.
Das bedeutet, wenn man eine App anbietet, darf die sich nicht „Psychotherapie“ nennen?
Genau, das geht nicht. Da riskiert man sofort eine Klage. Laut Richtlinien geht es ausdrücklich um die genannte persönliche Interaktion. Was über solche Apps und Plattformen möglich ist, ist Beratung. Wie finde ich die richtige Methode, wie finde ich den richtigen Psychotherapeuten, das ist erlaubt. Das ist aber von Therapie klar zu unterscheiden. Man kann übers Internet keine Diagnose stellen. Man kann keine Krankenbehandlung machen.
Wenn Sie sich das Angebot diverser Apps und digitaler Plattformen anschauen, was halten Sie persönlich davon? Was können diese tatsächlich leisten?
Smartphones und Computer sind ganz klarer Bestandteil im Leben von Menschen, und damit verändert sich der Mensch auch. Beratung in Anspruch zu nehmen, hat oft eine Hemmschwelle, Psychotherapie noch viel mehr. Hier können Online-Angebote helfen, Hemmschwellen abzubauen, weil sie einen niederschwelligen Einstieg bieten. Es gibt ja auch fast niemanden mehr, der sich bei körperlichen Beschwerden nicht vorab einmal im Internet informiert.
Was kann via Internet aus Ihrer Sicht keinesfalls geleistet werden?
Auf der Online-Ebene fehlen im Zusammenhang mit einer Psychotherapie Parameter wie die Körpersprache, die bei der Behandlung neben rein verbaler Kommunikation eine große Rolle spielt. Oft geht es darum zu erkennen, wie das Gesagte und die Körpersprache auseinanderklaffen, es geht um Nuancen in der Sprache, um Details. Das kann ich auch per Skype nicht erkennen.
Daran anknüpfend ist es dann auch nicht realistisch, dass digitale Angebote eine persönliche Therapie irgendwann ersetzen könnten?
Eine App kann eine Therapie nicht ersetzen. Denn stellen Sie sich vor, es gibt eine Fehlinterpretation von Verhalten etwa bei einem Suizidgefährdeten. In der Praxis habe ich selbst im Notfall noch viel mehr Optionen – bis zur Interventionsmöglichkeit – hier einzugreifen. Allein die physische Präsenz, die Möglichkeit, eine Türe zu verschließen und den Notarzt zu rufen, so etwas kann via Internet nicht geleistet werden.
Führt das Informieren im Netz auch dazu, dass Leute glauben, sie können sich selbst eine Diagnose stellen?
Es kommt heute öfter vor, dass Patienten kommen und bereits beim ersten Besuch ein Medikament verlangen und sagen: „Ich habe Burnout“, weil sie im Glauben sind, sich schon selbst diagnostiziert zu haben. Allerdings geht es ja darum, was ein Dritter sieht und nicht nur um die Eigenwahrnehmung. Als grundsätzlicher Einstieg in die Thematik hat das ja durchaus etwas für sich. Auch, dass Leute in Foren über seelische Gesundheit diskutieren und so weiter. Es ist aber wichtig, dass man das nicht aus dem Ruder laufen lässt.
Wo sehen Sie hier Gefahren?
Es besteht die Gefahr, dass Menschen im Netz in die Hände von Geschäftemachern geraten, Leuten, die mit Leidenszuständen Profit machen wollen. Die Sehnsucht der Menschen nach Heilung ist groß, oft nach dem Motto: „Bitte wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Manche erhoffen sich eine Lösung der Probleme wie auf Knopfdruck. Und online kann man eben sehr viel versprechen. Wo Geld zu verdienen ist, da sind auch Scharlatane.
Wie kann man unseriöse Angebote erkennen?
Indem zum Beispiel klargestellt wird: Wenn es Symptome gibt, dann müssten seriöse Plattformen darauf hinweisen, dass hier eine Psychotherapie angebracht wäre, und dass sie das nicht übernehmen können. Aber natürlich gibt es Probleme, zum Beispiel im Bereich von Beziehungen, wo auch beratend geholfen werden kann. Wichtig ist also die Unterscheidung, was ist Krankheit und wo genügt vielleicht einfach eine psychologische Beratung.
Helfen Bewertungen und Empfehlungen bei der richtigen Wahl eines Angebots?
Ich kann sagen, dass ich niemanden mehr in der Praxis habe, der sich nicht online vorher über mein Angebot informiert hat. Zur Vorabinformation über einen Therapeuten, über die Methoden, sind digitale Plattformen also durchaus zu begrüßen. Vieles erfolgt dann auch über Empfehlungen. Auch die Vereinbarungen über Erstgespräche erfolgen zunehmend online und sei es nur via E-Mail. Das telefonische Vereinbaren von Terminen nimmt ab, weil das E-Mail als Kommunikationsmittel einfach so praktisch ist.
Gibt es Menschen beziehungsweise gewisse Problemfelder, für die sich Hilfe via Internet, unter anderem auch Selbsthilfeangebote, eher eignet als für andere?
Ich würde Medien- und Gruppenarbeit generell innerhalb einer Therapie platzieren. Nehmen wir das Beispiel Suchtverhalten: In der letzten Phase, etwa bei einem Alkoholiker, wenn er bereits „trocken“ ist und die akute Phase überstanden hat, ist zum Beispiel eine Selbsthilfegruppe ein hervorragendes Instrument, in der hohen Motivation zur Abstinenz zu bleiben. Ganz am Anfang passt das wiederum überhaupt nicht.
Und natürlich gibt es viele Selbsthilfeoptionen für viele Menschen – junge Mütter oder Väter, die alleinstehend sind, in Scheidung oder auf Partnersuche. Da reden wir aber von Menschen in einer speziellen, möglicherweise Krisensituation, nicht von einer psychischen Krankheit. Hier können auch Chats und Internetforen helfen. Reden wir wiederum von einer richtigen Paartherapie, lässt sich das schlecht über das Medium spielen.
Ist der Einsatz von Apps und Onlineangeboten im Bereich psychischer Probleme und Erkrankungen in Österreich überhaupt schon etabliert?
Ich erlebe durchaus Menschen, die in die Praxis kommen und bereits einiges vorher ausprobiert haben. Das kann eben eine App oder ein Internetangebot genauso sein wie der Besuch bei einem Esoteriker. Dann kommen viele Patienten und erklären, es habe ihnen nicht wirklich geholfen. Fragt man nach einigen Therapiesitzungen nach, sagen die meisten, dass sie mit den anderen Sachen aufgehört haben, weil sie dann den Unterschied erleben.
Betreuen Sie Patienten, die in Behandlung sind, in irgendeiner Form auch online?
Man kann natürlich begleitend zur Therapie auch via Skype oder Mail arbeiten. Ich hatte etwa eine Patientin, die für drei Monate ins Ausland musste. Also, allein schon, um ein gewisses Sicherheitsnetz zu spannen, haben wir uns Skype-Termine ausgemacht. So kann man beratend unterstützen. Eine andere Sicherheitsstufe funktioniert auch per Mail. Man kann mit den Patienten Vereinbarungen treffen, dass sie sich melden und notfalls auf Hilfe zurückgreifen können. Das ist auch eine Möglichkeit, um in der Endphase Therapien auslaufen zu lassen. Die Sitzungen selbst werden weniger und man geht langsam über in die Beratung. Das klappt mittels digitaler Medien durchaus.
Letztlich sind bei digitalen Plattformen und Kommunikationsmitteln Daten immer ein sensibles Thema, im Bereich der psychischen Gesundheit erst recht. Wie kritisch sehen Sie den Umgang mit persönlichen Informationen von Patienten?
Big Data ist nun einmal Realität. Und Daten werden für maßgeschneiderte Werbung genutzt. Je mehr eine Firma unter Druck gerät, umso stärker wird Werbung dann auch zum Asset. Es kann sich also beispielsweise ein Start-up durchaus hohe ethische Regeln auferlegen, doch wenn es finanziell nicht gut läuft, setzt der unternehmerische Überlebensdrang ein.
Welche Rolle spielt hier Anonymität, zum Beispiel, dass Informationen, wenn es zu einem Datenleck oder Missbrauch kommt, nicht konkreten Namen von Patienten zuordenbar sind?
Für die Onlinekommunikation würde ich zum Beispiel schon gar nicht eine Mailadresse mit meinem echten Namen verwenden, sondern E-Mailadressen, die man nur für den Zweck anlegt. Damit wird die Sache schon unverfänglicher, indem man heikle Korrespondenzen – auf beiden Seiten – anonymisiert führt. Ich stehe ja auch unter Verschwiegenheitspflicht und muss darauf achten, dass keine sensiblen Informationen über Patienten an die Öffentlichkeit geraten können.
Abschließende Frage: Kann das Internet für psychisch Kranke per se zur Gefahr werden?
Bei psychisch Kranken ist das Internet generell kritisch zu hinterfragen. Ich würde es sogar so formulieren: Eine geladene Waffe gebe ich einem schwer psychisch kranken Menschen nicht in die Hand. Wer im Zuge einer Krankheit über sehr persönliche Dinge im Internet schreibt, wo um jedes Eck ein Cyberkrimineller lauern oder Daten in falsche Hände geraten können, begibt sich tatsächlich in eine gefährliche Situation.
Dieser Artikel erschien zuerst auf futurezone.at.
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