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NGO-Affäre: Das steckt wirklich hinter den „Geheimverträgen“ der EU-Kommission

Die Europäische Kommission steht im Verdacht, Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations, NGOs) bevorzugt zu haben. Doch eine genauere Analyse zeigt: Die Vorwürfe halten einer kritischen Prüfung nur bedingt stand.

EU-Flaggen
Die EU soll bestimmten NGOs Vorteile verschafft haben. Credit: artjazzi - stock.adobe.com / Canva.com [M]

Ein Bericht der Welt am Sonntag vom 1. Juni 2025 sorgte für Aufregung: Er stellte die Behauptung auf, die Europäische Kommission habe ausgewählten Umwelt-NGOs nicht nur Fördermittel aus dem Umweltprogramm LIFE zugesagt, sondern ihnen im Rahmen geheimer Verträge sogar fertig formulierte Social-Media-Botschaften und Termine bei Abgeordneten „durchgereicht“, um Kampagnen gegen Kohlekraftwerke, Pestizide und das Mercosur-Abkommen anzustoßen. Das entspricht allerdings nur bedingt der Wahrheit.

„Ungeheuerlicher Vorgang“ mit NGOs?

CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries erklärte in einem Beitrag auf X, diese Art der Förderung von „Klima- und Umweltlobbyisten aus Steuergeldern“ sei ein „ungeheuerlicher Vorgang“. Es seien daher „dienstrechtliche Konsequenzen gegen diejenigen zu prüfen, die daran mitgewirkt haben“, so de Vries weiter. „Hier gibt es eine Menge Sparpotenzial zum Wohle der EU und Deutschlands.“

Tatsächlich ist die Lage komplexer. Denn bei den zitierten Dokumenten handelt es sich um Fördervereinbarungen im Rahmen des LIFE-Programms, dessen Rechtsgrundlage die Verordnung (EU) 2021/783 bildet. Sie stellt für den Zeitraum 2021 bis 2027 5,4 Milliarden Euro für Klima-, Umwelt- und Naturschutz bereit, davon pro Jahr maximal 15,6 Millionen Euro für sogenannte Operating Grants an europaweit tätige Umweltorganisationen wie ClientEarth, Transport & Environment oder den World Wide Fund for Nature (WWF).

Die Kritik entzündet sich an einem spezifischen Teil dieser Förderpraxis: den sogenannten Arbeitsprogrammen, die die NGOs einreichen müssen, um Mittel zu erhalten. Diese Dokumente sind zwar rechtlich Teil der Fördervereinbarungen – und damit formal Verträge –, aber sie stammen aus der Feder der Antragsteller. Das bestätigen Recherchen des Nachrichtenportals Politico, das schon im Februar insgesamt 28 LIFE-Vereinbarungen gesichtet hat. Das Ergebnis: Die Inhalte wurden nicht von der Kommission vorgegeben, sondern spiegeln die strategischen Pläne der NGOs selbst.

Ein prägnantes Beispiel: Schon im Oktober 2019 kündigte ClientEarth an, die Betriebsgenehmigungen mehrerer deutscher Kohleblöcke gerichtlich anzugreifen – Monate bevor erstmals ein LIFE-Antrag eingereicht wurde. Die EU-Mittel halfen somit, ein längst angekündigtes Verfahren zu finanzieren; sie initiierten es nicht.

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Das steckt hinter den Verträgen

Ein Operating Grant basiert auf einer Rahmen-Partnerschaftsvereinbarung (Framework Partnership Agreement, FPA), die den strategischen Dreijahresrahmen vorgibt, und einer jährlich neu abzuschließenden Spezifischen Zuschussvereinbarung (Specific Grant Agreement, SGA). Beide Dokumente enthalten ein detailliertes Arbeitsprogramm, das ausschließlich von der jeweiligen NGO selbst verfasst wird, wie du bei der Europäischen Kommission nachlesen kannst.

Darin legen die Antragsteller – nicht die Kommission – Ziele, geplante Aktionen, Budget- und Personaleinsatz offen; die Kommission prüft diese Angaben lediglich nach formalen Kriterien (Relevanz, Effizienz, Mehrwert) und bewilligt anschließend bis zu 70 Prozent der anrechenbaren Kosten, der Rest muss kofinanziert werden.

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Transparenz ja – aber nicht vollständig

Die Welt am Sonntag weist dennoch auf ein reales Problem hin: Zwar sind die bewilligten Fördersummen im EU-Finanztransparenzsystem (FTS) öffentlich einsehbar, doch bleibt die inhaltliche Ausgestaltung der geförderten Arbeitsprogramme – etwa welche konkreten Aktivitäten durchgeführt werden – für die breite Öffentlichkeit nur schwer zugänglich. Die Arbeitsprogramme selbst sind nicht standardisiert veröffentlicht und müssen häufig über Einzelauskunftsersuchen beschafft werden.

Genau diese strukturelle Intransparenz bemängelt auch der Europäische Rechnungshof in seinem Sonderbericht 11/2025. Zwar habe sich die Datenerhebung verbessert, doch eine verlässliche, zentrale und vollständige Übersicht über die EU-Mittel für NGOs – insbesondere über Inhalte und Verwendung – fehle weiterhin. Die Informationen seien fragmentiert, nicht vergleichbar und über diverse Datenbanken und Websites verstreut. Eine konsolidierte Veröffentlichung der Arbeitsprogramme existiert nicht.

Der Rechnungshof empfiehlt ausdrücklich eine zentrale Plattform, auf der auch diese Dokumente dauerhaft und maschinenlesbar öffentlich zugänglich gemacht werden sollen.

Fazit: Die Programme sind nicht „geheim“ im Sinne einer Verschlusssache – aber sie sind bislang nicht proaktiv veröffentlicht.

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Reaktion der Kommission: neue Leitlinien

Die Debatte blieb nicht folgenlos. Im November 2024 erhielten alle LIFE-Geförderten Schreiben der Exekutivagentur CINEA: EU-Mittel dürften künftig nicht mehr für Tätigkeiten verwendet werden, die sich direkt an Abgeordnete oder Beamte richteten, etwa Terminvereinbarungen, vorformulierte Positionsschreiben oder Social-Media-Kampagnen zu konkreten Gesetzesvorhaben. Zur Begründung hieß es, solche Aktivitäten könnten „ein Reputationsrisiko für die Union“ darstellen, wie die Europäische Kommission in Reaktion auf den Sonderbericht 11/2025 betonte.

In der Plenardebatte des Europäischen Parlaments vom 22. Januar 2025 stellte EU-Kommissar Piotr Serafin klar, dass die Kommission im Vorjahr auf problematische Vertragsklauseln reagiert habe, die NGOs zu gezielter Einflussnahme auf EU-Abgeordnete verpflichtet hätten. Solche Regelungen seien zwar rechtlich zulässig, aber politisch unangemessen. Daher wurden 2024 neue Leitlinien erlassen, die eindeutig festlegen, welche Formen von Lobby-Aktivitäten künftig nicht mehr durch LIFE-Fördermittel finanziert werden dürfen – insbesondere keine direkt an Institutionen oder Mandatsträger gerichteten Kommunikationsmaßnahmen.

Laufende Verträge wurden entsprechend überarbeitet, künftige LIFE-Zuschüsse sind an die neuen Regeln gebunden. Die Kommission betonte jedoch ausdrücklich, dass zivilgesellschaftliche Akteure weiterhin das Recht haben, politische Prozesse zu begleiten – aus Eigeninitiative und mit klarer Trennung zur Kommissionsverantwortung.

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Das Kräfteverhältnis in Brüssel

Die Kontroverse wird häufig ausgeblendet, wenn nur auf wenige hunderttausend Euro LIFE-Zuschüsse geschaut wird. In Brüssel sind rund 25.000 Lobbyist*innen akkreditiert; zwei Drittel vertreten Unternehmens- oder Brancheninteressen. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 1,5 Milliarden Euro pro Jahr in Lobbying fließen – ein Vielfaches dessen, was Umwelt-NGOs aus EU-Mitteln erhalten.

Dagegen wirken die LIFE-Zuschüsse wie ein demokratischer Ausgleich: Sie ermöglichen es gemeinnützigen Organisationen, ihre Positionen ebenfalls sichtbar zu machen – mit klaren Rechenschaftspflichten und unter Aufsicht der Kommission.

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Was bleibt vom „Skandal“?

Die Debatte über die Rolle von NGOs in der europäischen Politik ist legitim – und längst überfällig. Denn Einflussnahme muss transparent, überprüfbar und regelkonform erfolgen – gleichgültig ob durch Umweltverbände oder Industriekonzerne. Die von der Welt skizzierten Missstände offenbaren vor allem ein strukturelles Defizit: fehlende Sichtbarkeit der inhaltlichen Förderbestandteile.

Ein pauschaler Generalverdacht gegenüber NGOs greift allerdings zu kurz. Vielmehr zeigen die bisherigen Fakten:

  • Die Kommission gab keine inhaltlichen Weisungen.
  • Die Pläne der NGOs waren vorab bekannt.
  • Die Verträge sind öffentlich nachvollziehbar, wenn auch nicht leicht zugänglich.
  • Und die Förderrichtlinien wurden bereits verschärft, um Graubereiche zu vermeiden.

Was also bleibt, ist ein berechtigter Ruf nach mehr Transparenz – aber kein Beweis für verdeckte Steuerung durch Brüssel. Der eigentliche Lobby-Schatten liegt weiterhin dort, wo die großen Budgets fließen: bei der Industrie.

Quellen: Welt am Sonntag; X/@VriesChristoph; Verordnung (EU) 2021/783; Politico; European Climate, Infrastructure and Environment Executive Agency; Europäischer Rechnungshof; Europäische Kommission; Europäisches Parlament; Corporate Europe Observatory & Observatoire des Multinationales

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