Wenn sich die Traumfabrik zu einem gewagten Genremix hinreißen lässt, tut sie dies in aller Regel möglichst plakativ. In „Cowboys & Aliens“ kämpfen Daniel Craig (53) und Harrison Ford (78) Seite an Seite – als Cowboys gegen Aliens. In „Stolz und Vorurteil und Zombies“ nagten – eher Jane-Austen-untypisch – plötzlich Untote an den Käfigkrinolinen der viktorianischen Damen. Und von „Abraham Lincoln Vampirkiller“ wollen wir gar nicht erst anfangen.
Die neue Serie „The Nevers“, die ab dem 12. April auf Sky Ticket und Sky Q auf Abruf sowie linear auf Sky Atlantic unmittelbar nach dem US-Start ihre Deutschland-Premiere feiert, ist da hinsichtlich ihres Titels deutlich subtiler. Doch auch sie spielt während der Regentschaft von Queen Victoria (1837-1901) und auch in ihr geht es höchst übernatürlich zu. Sie nennt Personen mit den unterschiedlichsten Superkräften „Die Berührten“ und steckt so quasi die Mutant/-innen der „X-Men“ ins viktorianische Korsett. Doch anders als das recht unbequeme Kleidungsstück engt das erzählerisch nicht ein – im Gegenteil.
Fluch oder Segen? Darum geht es
Die Herrschaft von Königin Victoria nähert sich ihrem Ende, als in London urplötzlich die sogenannten „Berührten“ auftauchen. Diese – zumeist Frauen – besitzen unerklärliche Fähigkeiten und/oder Körpereigenschaften und bereiten vor allem jenen Gruppen Sorgen, die an ihrer Macht festhalten wollen: der Kirche und der Oberschicht.
Eine der „Berührten“ ist Amalia True (Laura Donnelly, 38). Die junge Witwe hat es sich zur Aufgabe gemacht, der britischen Elite die Stirn zu bieten – praktisch also, dass sie die Fähigkeit besitzt, kleine Ausschnitte der Zukunft sehen zu können. Hilfe bekommt sie unter anderem von Lavinia Bidlow (Olivia Williams, 52), einer reichen Frau ohne Superkräfte, die in ihrem Waisenhaus vielen der „Berührten“ Unterschlupf gewährt. Und auch Amalias beste Freundin Penance Adair (Ann Skelly, 24, „Vikings“) erweist sich als ausgesprochen hilfreich: Sie ist eine der ersten „Berührten“ überhaupt und nicht zuletzt durch ihre technischen Superkräfte eine ausgesprochen progressive Frau.
Viele bekannte Gesichter
Beim Cast setzt „The Nevers“ auf ein erfahrenes, aber unverbrauchtes Ensemble. Laura Donnelly etwa als Amalia True kennen Horrorfans aus dem Film „Dread“ und Hobbitfans aus „Tolkien“, dem Biopic über den „Herr der Ringe“-Autor. Olivia Williams wusste hingegen schon in „The Sixth Sense“ zu begeistern und ist bald in der Oscar-Hoffnung „The Father“ zu sehen. Und wer auch nur einen Teil der Cornetto-Trilogie von Simon Pegg (51) kennt und liebt, der wird sich höchst erfreut darüber zeigen, dass dessen kongenialer Partner Nick Frost (49) als ebenso charmanter wie gefährlicher Bettlerkönig Declan Orrun mit von der Partie ist.
Klassenkampf mit Superheldinnen?
Während manch andere Genre-Vermählung gezwungen und aufgesetzt wirkt, ergibt es durch aus Sinn, dass „The Nevers“ die viktorianische Ära und weibliche Figuren mit Superkräften zusammenführt. Kurzer Geschichtsexkurs: Um 1870 herum wurde der Kampf für das Frauenwahlrecht und somit für mehr Gleichberechtigung zu einer landesweiten Bewegung in Großbritannien. Dadurch ergibt sich für „The Nevers“ ein ziemlich cleverer Symbolismus: Natürlich gilt es Frauen, die ungeahnte Fähigkeiten an den Tag legen, mit Vorsicht oder gar Ablehnung zu begegnen – stellen sie doch eine Gefahr für das etablierte Patriachat dar.
Die „X-Men“-Comics entstanden in den USA der 60er Jahre und sind stellvertretend für das Civil Rights Movement und die Unterdrückung von Minderheiten, „The Nevers“ beleuchtet den Kampf der Suffragetten von einst, die sich auch in verschiedenen Gruppen organisierten. Zur politischen Moralapostelgeschichte verkommt die Serie aber nicht, „The Nevers“ nimmt sich selbst nicht zu ernst und rückt mit Action- und auch Sci-Fi-Elementen klar die Unterhaltung in den Vordergrund.
Kein klassisches Gut gegen Böse
Die Macher der Serie haben auch nicht den Fehler begangen, daraus eine schnöde „Gut gegen Böse“-Geschichte zu spinnen, in der jede männliche Figur als Tyrann und jede Frau als Unschuld in Person dargestellt wird. Den Protagonisten werden Beweggründe für ihr Handeln gegönnt, die man – mal mehr, mal weniger – nachvollziehen kann und die über pure Boshaftigkeit hinausragen. Wer also Lust auf Superheldinnen mit imposanten Fähigkeiten und noch imposanteren Kleidern hat, lässt sich von „The Nevers“ ab 12. April ins 19. Jahrhundert der etwas anderen Art entführen.