Manchmal wird Mut belohnt. Manchmal nicht. Im Fall von Christopher Nolans (50) „Tenet“ – wie passend für den komplexen Film – ist es wesentlich komplizierter. Trotz Corona-Pandemie wagte sich Filmstudio Warner Bros. am 12. August 2020 mit dem aufwändigen Film in die deutschen Kinos, trotz Corona-Pandemie spielte er weltweit über 360 Millionen US-Dollar ein und ist somit der erfolgreichste Kinofilm der vergangenen zwölf Monate.
Statt diese wichtige Botschaft an die Industrie vollends zu würdigen, kamen jedoch vereinzelt auch kritische Stimmen auf. Wie viel nur hätte „Tenet“ mit Denzel Washingtons (66) Sohn John David Washington (36) in der Haupt- und Neu-Batman Robert Pattinson in einer Nebenrolle bei einem „normalen“ Release machen können?
Kino-Idealist Nolan wies diese Stimmen ebenso prompt wie vehement in die Schranken. Derartige „Was wäre, wenn…?“-Fragen seien das völlig falsche Zeichen und zudem die Verweigerung, sich der „neuen Realität“ zu stellen. Womit der Bogen zur Handlung von „Tenet“ geschlagen werden kann, der ab 23. April seine Flatrate-Premiere auf Sky Ticket feiern wird. Auch darin wird die Hauptfigur vor eine neue Realität gestellt, bei der er zunächst so seine Probleme hat, sie zu akzeptieren, geschweige denn zu verstehen.
Wer bin ich – und wann bin ich? Darum geht es
Gerade noch befindet sich ein namenloser Agent, fortwährend als der „Protagonist“ (Washington) bezeichnet, im Einsatz gegen Geiselnehmer. Nur wenig später, um viele Erkenntnisse reicher und einige Zähne ärmer, wird sein Weltbild durch das unscheinbare Wörtchen „Tenet“ völlig auf den Kopf gestellt: Dank einer bahnbrechenden Technologie, die einem skrupellosen Verbrecher in die Hände gefallen ist, lassen sich die für unverrückbar gehaltenen Gesetze der Physik aushebeln. „Zeitreise? Nein, Inversion!“
Woher stammt die Munition, die sich entgegengesetzt zum normalen Verlauf der Zeit verhält? Und droht aufgrund der Inversions-Technologie wirklich der Ausbruch des Dritten Weltkriegs? Der „Protagonist“ begibt sich auf eine Spurensuche, die ihn nicht nur rund um den Globus führt – sondern auch an die Grenzen der Vorstellungskraft.
Eine Gefühlssache
„Versuchen Sie nicht, es zu verstehen. Fühlen Sie es.“ Mit diesem Spruch wird die Hauptfigur von „Tenet“ und somit auch der Zuschauer in das Prinzip der Zeit-Inversion eingeführt. Tatsächlich treibt Nolan mit seinem neuesten Werk eine gestalterische Vision auf die Spitze, die er im Jahr 2000 in der allerersten Szene seines Films „Memento“ bereits hatte. Ein entwickeltes Polaroidfoto, das bei jedem Schütteln etwas blasser wird. Bluttropfen, die eine Wand hinaufrinnen – die grausige Folge der rückwärts ablaufenden Exekution eines (un)schuldigen Mannes.
Nur diese Anfangssequenz wurde damals rückwärts abgespielt, beim Rest von „Memento“ sind lediglich die meisten (nicht alle) Szenen in chronologisch verkehrter Reihenfolge angeordnet. Ein forderndes Konzept, das im Vergleich zu „Tenet“ nun jedoch banal einfach erscheint. Ohne einen kleinen Diskurs in die Physik kommt man hier nicht mehr aus.
Die Idee hinter „Tenet“
Wer sich mit den Theorien beschäftigt, die in „Tenet“ behandelt werden, stolpert schnell über Begriffe wie Entropie, Thermodynamik oder den Namen James Maxwell. Die Kurzversion: Die natürliche Ordnung des Universums ist Unordnung. Eine Tasse, die in tausend Teile zersprungen ist, wird sich daher nie von allein wieder zusammensetzen. Aber was, wenn doch? Diesem Gedankenspiel geht Nolan mit „Tenet“ nach. Mehr noch: Was, wenn derartig invertierte Gegenstände in einer ansonsten normal ablaufenden Welt auftreten? Oder ein Mann, sagen wir ein „Protagonist“, durch eine invertierte Welt schreitet?
Nolans Antworten auf diese Fragen zaubern Schauwerte auf die Leinwand, die, das muss betont werden, so noch in keinem anderen Film zu sehen waren. Das Gezeigte reizt die Vorstellungskraft der Zuschauer aus – auf der Bedeutungsebene hin zur ganz grundsätzlichen Frage, wie um alles in der Welt einige Sequenzen gedreht werden konnten. Kein Wunder also, dass „Tenet“ sowohl für das „Beste Szenebild“ als auch für die „Besten visuellen Effekte“ bei der anstehenden Oscar-Verleihung am 25. April nominiert ist.
Dabei geht „Tenet“ zu Beginn eigentlich sehr behutsam, ja beinahe behäbig mit derartigen Szenen um. Die erste Hälfte des Streifens mutet gar wie ein „Bond“-Film an, in dem es Tüftler Q lediglich ein wenig mit seinem Technik-Firlefanz übertrieben hat. Doch dann zieht „Tenet“ urplötzlich an und schickt seine Figuren zu Ludwig Göranssons (36) treibenden Score in blanken Bombast.
Kein Film für nur einen TV-Abend
Es ist überdeutlich, wie sehr sich Nolan und Co. in die Thematik vertieft haben. Ebenso klar sollte es allen Interessierten sein, dass auch nach zwei- und dreimaligem Anschauen nicht alle Fragezeichen verschwunden sein werden. „Tenet“ ist Nolans kompliziertester, verworrenster Film. Gleichzeitig kann aber bei „Tenet“ mehr denn je attestiert werden, dass Nolan seinem Publikum etwas zutraut. Wer sich darauf einlässt, findet geschickt eingebaute Hinweise auf spätere Enthüllungen, oder ertappt sich nach dem Film mit einem roten und einem blauen Stift dabei, die Handlungsstränge nachvollziehen zu wollen.
Generell stehen bei „Tenet“ nicht unbedingt die schauspielerischen Leistungen im Vordergrund. Nichtsdestotrotz ist es die glaubwürdige und charmante Bromance zwischen Washington und Neu-Batman Robert Pattinson (34), durch die man sich als Zuschauer mit den beiden verbunden fühlt – erst recht beim zweiten oder dritten Durchlauf. Hilfreich also, dass der bislang bei diversen Streaming-Plattformen nur im gebührenpflichtigen Einzelabruf verfügbare Streifen nun im Sky-Ticket-Abo aufgeht.