Gesichtserkennung ist buchstäblich überall. Nicht nur an S-Bahnhöfen werden unsere Gesichter registriert, auch unsere Smartphones erkennen uns mittlerweile fast mühelos. Umso verwunderlicher ist es, dass wir uns noch immer nicht unserer eigenen Fähigkeit, Gesichter zu erkennen und zu memorieren bewusst sind. Einer neuen Studie zufolge ist diese Fähigkeit aber erstaunlich gut ausgeprägt.
Gesichtserkennung: Private vs. Promis
Wisst ihr, wie viele Gesichter ihr selbst wiedererkennen könnt? Da sind natürlich die eurer Verwandten, der Freunde, Kollegen und Bekannten, die von Prominenten, Politikern und nicht zuletzt die der eures Bäckers, Kioskverkäufers oder Steuerberaters. Kurzum: Es sind sehr viele. Wie viele genau, das wollen Forscher der University of York und der University of Aberdeen, Großbritannien, herausgefunden haben.
Ihre Studie haben sie im Magazin der britischen Royal Society veröffentlicht. Dabei waren zwei Forschungsfragen relevant:
- Frage 1: Wie viele Gesichter kennen Menschen persönlich?
Zur Beantwortung dieser Frage ließen die Forscher ihren 25 Studienteilnehmer eine Stunde Zeit, eine Liste von Personen zu erstellen, deren Gesichter sie sich mental vorstellen können. Kategorien wie „Familie“, „Freunde der Familie“, „eigene Freunde“ und „Schule“ sollten ihnen dabei helfen.
Für die Probanden war das zunächst einfach: Die Mutter, der Vater, der beste Freund oder die beste Freundin sind leicht vorstellbar. Mit der Zeit dauerte es jedoch immer länger, die Liste zu erweitern. Allerdings erschöpfte sie sich vor Ablauf der Zeit auch nicht.
- Frage 2: Wie viele berühmte Gesichter erkennen sie?
Im zweiten Schritt gingen die Forscher mit Studienteilnehmern genauso vor, allerdings mit dem Unterschied, dass diese nun berühmte Personen, deren Gesichter sie geistig abrufen konnten, auflisten sollten. Dabei halfen ihnen Kategorien wie „Film“ oder „Mode“.
Das Ergebnis: Die Teilnehmer konnten mehr Gesichter von Personen aus ihrem privaten Umfeld auflisten (je circa 400) als Gesichter von Berühmtheiten (je ca. 300).
Das Gesamtergebnis: Tausende Gesichter
Dennoch: Erinnerung ist fehlerhaft und Unterschiede zwischen der Gesichtserkennung der Probanden „auf dem Papier“ und ihrer tatsächlichen Fähigkeit dazu schienen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Deshalb wurde ein dritter Test durchgeführt, in dem die Studienteilnehmer aus einem Datensatz von 3.000 prominenten Gesichtern die herausfiltern sollten, die sie erkannten. Ein wirkliches „Erkennen“ wurde nur gezählt, wenn eine Person auf zwei unterschiedlichen Fotos identifiziert worden war.
Dafür blieb den Teilnehmern aber nicht mehr nur eine Stunde. Sie sollten das über einen Zeitraum von drei Monaten in ihren Alltag integrieren.
Das Ergebnis: Die Probanden erkannten ungefähr fünf Gesichter für jedes Gesicht, an das sie sich im ersten Test erinnerten. Das und die ursprünglichen Namenslisten aus den Tests ergaben die Gesamtanzahl der Gesichter, die die jeweiligen Teilnehmer erkannten. Der durchschnittliche Studienteilnehmer konnte demnach 5.000 Gesichter erkennen.
Doch Achtung: Das ist nur die Anzahl von Gesichtern, die sie tatsächlich kennen. Theoretisch erkennen sie noch viele mehr. Unsere Fähigkeit zur Gesichtserkennung ist noch immer ein unzureichend erforschtes Territorium.
Gesichtserkennung als Survival-Kit
Und doch ist es ein interessantes Studienergebnis. Historisch gesehen, sind menschliche Gemeinschaften auf etwa 100 Menschen beschränkt, so Curiosity. Das ist kaum groß genug für eine bestimmte Person, um jemals Tausende von Menschen zu treffen. Selbst in Ballungszentren um Großstädte herum neigen wir dazu, unsere eigenen, kleineren Gemeinschaften zu bilden – womit wir wieder beim Bäcker und Kioskverkäufer unseres Vertrauens wären.
Trotzdem sind wir dazu fähig, unsere Liste an Gesichtern zu erweitern. Und das ist psychologisch gesehen sogar äußerst wichtig, wie Dr. Rob Jenkins, Co-Autor der Studie sagt: „Die Fähigkeit zwischen verschiedenen Individuen zu unterscheiden, erlaubt es uns, das Verhalten anderer Menschen im Laufe der Zeit zu beobachten und unser eigenes Verhalten dementsprechend anzupassen.“
Es geht um den Kontext
Ob uns jemand eine reinhaut oder uns ein schönes Geschenk macht: Wir erinnern uns an diese Person. Hinzu kommt die Tatsache, dass, wenn es um Gesichter geht, der Mensch ein häufig kontextbezogenes Gedächtnis hat, wie die Psychologieforschung herausgefunden hat. Es kann also sein, dass man einen Kollegen, mit dem man selten zu tun hat, zwar im Büro erkennt, auf der Straße aber nicht wiedererkennt. Das hebt sich allerdings auf, sobald die Bindung zu jener Person enger wird. Unsere Gesichterkennung sichert also unser urinstinktives Überleben in der Gesellschaft.
Wo fängt die Überwachung an, wo hört sie auf?
Natürlich wird die Fähigkeit von zur Gesichtserkennung von Maschinen durch künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen aktuell zu einer Perfektion getrieben, mit der wir, vermutlich, irgendwann einmal nicht mehr mithalten können. Mit Algorithmen trainierte Computer können nicht aus Tausenden, sondern aus Millionen von Bildern Gesichter erkennen.
Gleichzeitig verzahnen wir uns immer mehr mit ihnen. Das ist zu unserem Vorteil, wenn unser iPhone mit Gesichtserkennung per Venenstruktur unbezwingbar wird oder wir bald keine Ausweise mehr zum Fliegen brauchen könnten. Doch die Technologie kann auch versagen, zum Beispiel wenn sie auf gefälschte Passbilder hereinfällt. Betrüger mit hundertprozentiger Sicherheit zu enttarnen liegt also noch in der Zukunft – und damit auch das Verhältnis zwischen nützlicher und sinnfreier Überwachung.